SCHIENE regional - Bahnthemen Südwest

Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen - Ulm

Gratulation Herr Oettinger!

 

(19.07.2007) Ihnen ist der große Durchbruch gelungen. Sie haben das Projekt Stuttgart 21, ach was sage ich, Oettinger 21, gegen alle Widerstände durchgesetzt. Und nicht nur das, Sie haben auch ein paar läppische Steuermilliarden dafür versprochen, dass ein Jahrhundertprojekt jetzt kommt, nicht erst in vielen Jahren. Wie schreibt doch der Reutlinger Generalanzeiger am Tag null plus eins:

"Wer die Richtigkeit der Entscheidung grundsätzlich in Frage stellt,
der hat die historische Dimension des Projekts nicht begriffen."

An diesem Tag null plus eins, dem 20. Juli 2007, dem Tag nach dem Berliner Spitzengespräch Land – Bund – Bahn, beherrschen neben dem Sieg Oettingers weitere Themen die Nachrich- tenlage in Baden-Württemberg: Die Todesschüsse im Bendlerblock, die den Widerstand gegen das Hitler-Regime um General Olbricht und Oberst von Staufenberg endgültig brachen, die Niederlage der Gegner von Stuttgart 21 und die Aussagen von Finanzminister Stratthaus, dass die so genannten Regionalisierungsmittel1 wesentlich zur Finanzierung von Stuttgart 21 bei- tragen müssen.

Ministerpräsident Günther Oettinger ist die Galionsfigur in einem Kampf um die rasche Realisierung eines Zukunftstraums, der von einigen Wenigen geträumt und nun für einige Wenige realisiert werden soll: Die Verknüpfung des wichtigen Projekts Neubaustrecke Wendlingen – Ulm mit dem Stuttgarter Tiefbahnhof. In einer beispiellosen Desinformations- kampagne wurden mit leeren Worthülsen und wüsten Drohungen2 Landes- und Lokalpolitiker, besonders aber Medienvertreter und prominente "Aushängeschilder" aus dem Musterländle ins (Schlauch-3) Boot geholt, um für die bedingungslose Erfüllung von Oettingers Prestigeprojekt zu werben. Einer freien Presse unwürdig haben sich dabei die beiden großen Stuttgarter Zeitungen vor den Streitwagen spannen lassen, die jede noch so sinnlose Aussage des Regierungschefs bereitwillig aufgeschnappt und gewohnt einseitig breitgetreten haben, ganz im Gegensatz zu kritischen Leserbriefen und Sachinformationen der fachkundigen Bearbeiter des Alternativkonzepts Kopfbahnhof 21. Mit zunehmender Distanz von Stuttgart nahm offensichtlich auch die realistische Einschätzung der Folgen von Stuttgart 21 zu, denn die große Zeitung für den Südwesten mit Sitz in Freiburg berichtete ausgewogen und kommentierte hintergründig.

Einen zentralen Stellenwert in der Diskussion um Stuttgart 21 nimmt die Finanzierung ein. Auch die politischen Gegner, weitgehend beschränkt auf DIE GRÜNEN im Lande, argumentieren häufig über das Vehikel Geld gegen Stuttgart 21. Dabei sind nur wenige, darunter, wie Umfragen gezeigt haben, auch Entscheidungsträger, in der Lage die Zahl 4,8 Milliarden richtig auszuschreiben, geschweige denn größenmäßig einzuordnen. Der Aufwand für den Tiefbahnhof ist maßlos, wie auch der nach oben offene Anteil des Landes Baden-Württemberg daran. Aber die finanzielle Last wird irgendwann geschultert sein (die Polizisten arbeitet dann eben für zwanzig Jahre wieder 48 Stunden pro Woche und der Klassenteiler in den Schulen wird, bei sinkender Schülerzahl und zunehmenden Problemen mit familien-, erziehungs- und kulturlosen Kindern, auf 40 erhöht). Viel schlimmer noch sind die Langzeitfolgen, hier in Anlehnung an die Formulierung des o. g. Zitats aus dem Reutlinger Anzeiger ausgesprochen:

"Wer die Richtigkeit der Entscheidung nicht grundsätzlich in Frage stellt, der hat die historische Dimension des Projekts nicht begriffen."

Das Prestigeprojekt Stuttgart 21 ist verkehrstechnisch gesehen für über 80% der Bahnkunden nachteilig. Der kleine Anteil der "durchfahrenden" Reisenden kann eine Fahrzeitverkürzung von wenigen Minuten bis zum nächsten Knoten verbuchen. Der Anschluss des Raums Stuttgart wird regional und überregional ("an Europa") durch einen modernisierten Kopfbahnhof besser realisiert, als durch einen Tunnelbahnhof mit nur acht Bahnsteigkanten und vielen betrieblichen Einschränkungen. Errungenschaften der letzten Jahre, wie der ITF zur optimalen Verknüpfung von NV-NV und NV-FV (Nahverkehr - Fernverkehr), werden durch Stuttgart 21 ebenso eingeschränkt, wie die zukünftigen Entwicklungs- und Ausbaumöglichkeiten des Schienenverkehrsangebots. Mit unglaublicher Ignoranz wird ein Tunnelbahnhof durchgeboxt, der mit acht Gleisen nicht einmal das derzeitige Betriebsprogramm sinnvoll, d.h. unter Beibehaltung der Anschlüsse und Übergänge, leisten kann, sondern als neues Nadelöhr der wünschenswerten zusätzlichen Verlagerung des Individualverkehrs auf die Schiene dauerhaft im Wege stehen wird. Die Alternative zu Stuttgart 21, ein modernisierter Kopfbahnhof, berücksichtigt technische und betriebliche Entwicklungen des Bahnwesens, während der Tunnelbahnhof auf 25 Jahre alte Konzeptionen aufbaut, die an anderen Orten längst verworfen worden sind. Während die Landesregierung den Ausbau des Bahnhofs "Milchkanne4 Mannheim" mit einem zusätzlichen Bahnsteig fördert, muss sich der zentrale Hauptstadtbahnhof mit seinen vielen Zulaufstrecken auf Dauer mit acht Gleisen begnügen.

Viele weitere betrieblich einschränkende Sachverhalte könnten hier noch aufgeführt werden, aber ein anderer Aspekt der Tieferlegung des Hauptbahnhofs soll ebenfalls erwähnt werden, der seltsamerweise oft unerwähnt bleibt. Ist es den Reisenden auf der Fahrt nach Stuttgart zuzumuten die letzte Wegstrecke in einer langen Tunnelröhre zu erleben? Der Autor ist in den letzten Jahrzehnten, nach dem Wegzug von Stuttgart, einige hundert Mal dienstlich und privat mit dem Zug in die Hauptstadt gefahren. Die Einfahrt in den Talkessel, besonders schön auf der Gäubahn zu erleben, ist ein wichtiger Bestandteil der Reise und Ankunft. Für wenige Minuten Fahrzeitgewinn allein für die Durchfahrenden sollen Reisequalität und Reisekultur beerdigt werden? Auch ich sitze (bei meinen durchschnittlich 800 Zugfahrten pro Jahr während der letzten 25 Jahre) oft mit dem Laptop oder der Zeitung im Zug, aber ich möchte in Hamburg weiterhin über die Elbbrücken fahren und den Hafenblick genießen, in Köln von der Hohenzollernbrücke zum Dom schauen und in Stuttgart vorbei am Rosensteinpark, den Unteren und Mittleren Anlagen in einen oberirdischen Bahnhof rollen. Man denke nur an die Reisenden auf der europäischen Magistrale 17, die im Gare de l’Est in den Zug steigen, um in München festzustellen, dass Stuttgart aus einer Röhre besteht!

Den Anschluss an die europäischen Fernstrecken hätte Stuttgart einfacher, sparsamer und schneller haben können ohne die unzulässige Verknüpfung zwischen der Neubaustrecke Wendlingen - Ulm und Stuttgart 21. Die Mehrkosten von weit über eine Milliarde Euro für Stuttgart 21 gegenüber dem modernisierten Kopfbahnhof binden Finanzmittel, die an anderer Stelle dringend benötigt würden, zum Beispiel beim Ausbau der Rheintalbahn und den vielen kleinen, aber strukturell wichtigen Maßnahmen, die durch GVFG-Kürzungen nun nicht mehr realisiert werden5. Nach der Ankündigung des Finanzministers, die eigentlich für niemanden überraschend kam, dass ganz Baden-Württemberg für Stuttgart 21 bezahlen muss, wurden die kritischen Stimmen aus dem Badischen lauter. Mit Recht werden nun an die Förderung des ungleich wichtigeren Ausbau-Projekts der Nord-Süd-Magistrale im Rheintal gleiche Maßstäbe angelegt, wie in Stuttgart. Doch, abgesehen von einem Höflichkeitsbesuch in Offenburg, ist Ministerpräsident Oettinger nur für "sein" Stuttgart 21 vehement eingetreten. Der Versuch aus Stuttgart 21 ein Gemeinschaftsprojekt "Baden-Württemberg 21" (BW 21) zu zaubern, wird kläglich scheitern – so dumm sind die Menschen im Land nicht. Durch aus Steuermitteln finanzierten, großflächigen Anzeigen, erschienen am 21.07.07 in den Tageszeitungen des Lands, wird die Bevölkerung wahrscheinlich eher polarisiert als eingebunden. Hier folgt die wörtlich Wiedergabe des Anzeigentextes:

Wir begrüßen unsere künftigen Vororte
 
Paris, Wien und Budapest.
 
Und natürlich München.

 
Das Bahnprojekt BW 21 bringt Europa näher an Baden-Württemberg.

Vorsicht am Bahnsteig! Baden-Württemberg wird in die europäischen Hochge- schwindigkeits-Verbindungen Paris – Bratislava sowie Budapest eingebunden: Das Bauvorhaben BW 21 hat jetzt grünes Licht erhalten. Die Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm und die Umgestaltung des Stuttgarter Bahnhofs bedeuten schnellere Züge, bessere Anschlüsse und kürzere Reisezeiten. Und da Zeit bekanntlich Geld ist, profitieren von BW 21 nicht nur die Reisenden, sondern auch die Wirtschaft. Denn so kommen viele unserer Exportgüter schneller ans Ziel – und viele Besucher aus ganz Europa schneller ins Land. Freuen Sie sich also auf viele Gäste aus unseren künftigen Vororten. Oder statten Sie ihnen selbst einmal einen Besuch ab. Alles über das Infrastrukturprojekt BW 21 erfahren Sie unter www.baden-wuerttemberg.de

Baden-Württemberg – wir können alles. Außer Hochdeutsch.

Aufmerksame Leser werden spätestens jetzt erkennen, dass jeder der Sätze haltlose Aussagen und Unwahrheiten enthält (mit Ausnahme von „Vorsicht am Bahnsteig!“). Gleichzeitig wird auch noch ein Güterzug-Tunnel unter der Alb versprochen ...

Widerstand der besonderen Art formierte sich, nachdem das Thema Tiefbahnhof Stuttgart seitens der Stadt und der Landesregierung vorangetrieben und mit der Neubaustrecke in einen Topf geworfen wurde. Hochqualifiziert und detailliert wurden, in Zusammenarbeit des BUND und des VCD, tatkräftig unterstützt durch die Initiative "Leben in Stuttgart e.V.", Alternativen aufgezeigt und wissenschaftlich fundiert mit den Plänen für S21 verglichen. Das Konzept Kopfbahnhof 21 liefert eine Optimierung der Antworten auf verkehrliche Aufgabenstellungen für den Nah- und Fernverkehr. Selbstverständlich wurde dabei nicht nur der Umbau des jetzigen Hauptbahnhofs zu einem Hochleistungskopfbahnhof exakt ausgearbeitet, sondern auch die Streckenführungen um Stuttgart herum, einschließlich Flughafen, Messe und NBS-Anbindung, neu geordnet. Die Einbindung in den europäischen Hochgeschwindigkeitsverkehr wird ebenso realisiert, wie ein weiter ausbaufähiger Nahverkehr mit intelligenten Anbindungen. Die ausgeführten Kostenkalkulationen sind mit sehr viel höherer Sicherheit zu beurteilen, als dies beim Projekt S21 der Fall sein kann. Aber auch das städtische Umfeld, die Auswirkungen von S21 auf das Klima und die Mineralquellen, um nur einige Aspekte zu nennen, werden sehr gewissenhaft in die Planungen einbezogen.

Leider sind bei der Rechtsprechung vor Gerichten im Lande immer wieder Fehleinschätzung feststellbar, die auf erhebliche Informationslücken bei Bahnthemen zurückgeführt werden können. Beispielhaft dafür steht die Aussage eines Richter in einer Urteilsbegründung: "Die Bahn wird schon wissen, was sie braucht." Damit demonstriert der Richter wieder einmal den vollen Durchblick ... (in Bezug auf sein Unwissen über die Zusammenhänge im Schienen- verkehr).

Frank-D. Paßlick

 
Erläuterungen:

  1. Ausgleichszahlungen des Bundes an das Land für die Übernahme der Aufgabenträgerschaft für den Personennahverkehr auf der Schiene
  2. Aussagen der Regierenden unseres Landes, ohne den Tunnelbahnhof Stuttgart 21 würden wir von Europa abgehängt, sind ebenso dummdreist und haltlos, wie vor 30 Jahren die Worte des ewig gestrigen Hans Filbingers im Wyhler Wald "Ohne das AKW Wyhl gehen bei uns im Land die Lichter aus."
  3. Zitat Oettinger vom 19.07.2007: "Die beiden Tanker Bund und Bahn wurden durch das Schlauchboot Baden-Württemberg in die richtige Richtung bugsiert."
  4. Bahnchef Hartmut Mehdorn zur Bypass-Planung Mannheim: "Der ICE kann nicht an jeder Milchkanne halten."
  5. GVFG – Gemeinde-Verkehrs-Finanzierungs-Gesetz, Landezuschüsse für den Neubau siedlungsnaher Haltestellen usw.

 
Und drei Jahre später? - Stuttgart 21 - gegen alle Vernunft

Stuttgart21 - Das Milliardengrab: Die entzauberte Stadt
Den Stuttgarter Nachrichten war das aktuelle Buch "Die entzauberte Stadt" weniger Zeilen Wert, als ein Handtaschenraub in Weilmdorf. Wer sich aber dafür interessiert findet den Titel überall im Buchhandel (224 Seiten, 15,90 EUR ISBN 978 3-927340-83-1)

 

Günther Oettinger: "S21 ist nicht zu teuer"

(Sa, 22. Februar 2020) Die Badische Zeitung aus Freiburg zitiert aus einem dpa-Interview mit dem ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU):
"Das Bahnprojekt Stuttgart 21 wird trotz der enormen Preissteigerung nicht zu teuer. - Das wird mal die zentrale Verkehrsinfrastruktur Baden-Württembergs werden. Der Flughafen wird es nie werden. Die Autobahn wird immer ein Problem sein. Die Schiene wird Weltklasse werden."

Im Finanzierungsvertrag, den Oettinger 2009 unterzeichnet hatte, waren noch 4,5 Milliarden Euro als Obergrenze festgelegt worden. Inzwischen liegt der Kostenrahmen bei 8,2 Milliarden Euro; weitere Preissteigerungen sind nicht auszuschließen. Selbst wenn er damals gewusst hätte, dass es zehn Milliarden Euro werden, hätte er zugestimmt, sagte Oettinger.
"Ich bin sicher: Wenn der Bahnhof eingeweiht ist, wird er für Architekten aus der ganzen Welt ein Mekka werden, ein Anziehungspunkt."

Bis Ende 2025 soll der Bahnknoten Stuttgart neu geordnet sein. Die Reisezeiten im Fern- und im Regionalverkehr sollen sich dadurch erheblich verkürzen.
Oettinger war von 2010 bis 2019 EU-Kommissar in Brüssel.

Guenther Oettinger Foto: f-dpa / Frank Passlick Am Morgen des 22.02.2020 konnte man Oettingers abstruse Äußerungen auch im SWR Hörfunk verfolgen. Da hat einer nichts dazugelernt. Allein schon die Meinung, S21 werde zum Mekka von Architekten aus der ganzen Welt, zeigt deutlich, dass er überhaupt keine Ahnung davon hat, dass es sich bei einem Bahnhof um eine Betriebsstelle der Eisenbahn handelt. In diesem Fall eine Betriebsstelle, die ihre Aufgabe in Zukunft nur unzureichend und zum Nachteil vieler Bahnkunden nicht erfüllen kann. Die absurde Diskussion über die Leistungsfähigkeit des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs zeigt dies überdeutlich. Während die Befürworter die Anzahl der Züge pro Stunde gebetsmühlenartig vorrechnen, geht es den späteren Nutzern um die Realisierung eines sinnvollen Fahrplans weit über den Bereich des Tiefbahnhofs hinaus. Die Kundenqualität eines Kopfbahnhofs, mit stufenlosem Umsteigen zwischen den Zügen auf allen Gleisen, kann ein Durchgangsbahnhof ohnehin nie erreichen. Die vielfache Nutzung einer Bahnsteigkante mit zwei hintereinander stehenden Zügen aus unterschiedlichen Richtungen ist nur auf dem Papier problemlos. (Anmerkungen: f-dpa)